Mein Traum vom Segeln

11. Mai 2016
Mein Traum vom Segeln
Tobias Beyer ist ein Mann von 47 Jahren. Er ist Ehemann und Vater von zwei Töchtern. Er ist aber auch an ALS erkrankt, wird maschinell beatmet und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Er kann nicht mehr gehen und nicht stehen, wird 24 Stunden von seinem Pflegeteam betreut, kommuniziert mittels Sprachcomputer per Augensteuerung. Er fühlt und denkt, kann sehen, hören und empfinden wie alle anderen Menschen und erzählt gerne von schönen Tagen, die er erlebt.

 

Gib den Jahren mehr Leben, ist mir aus dem Herzen gesprochen und meine Lebenseinstellung. Leben heißt für mich: nicht allein, sondern bei meiner Familie zu sein. Meine Umwelt zu erleben. Ich liebe die Natur, im Zimmer bleiben zu müssen ist für mich eine richtige Strafe. Ich möchte den Regen fühlen, den Wind spüren, die Sonne soll mich bräunen und wenn mir kalt ist, möchte ich mich in eine Decke einmummeln. Eine Mücke darf mich stechen, nur lästige Fliegen, die ich nicht verscheuchen kann, mag ich gar nicht. Ich möchte sehen und hören, möchte fühlen und als Mensch wahrgenommen werden. Schaut in meine Augen: Man kann mit mir sprechen, ganz ohne Worte. Ich möchte kein Mitleid, doch Hilfe nehme ich gern an. Ich möchte anderen Menschen Mut machen und will mich nicht verstecken.

Zu Jahresbeginn 2014 wurde ich gefragt, was ich mir persönlich für das neue Jahr wünschen würde, was ich gern in diesem Jahr erleben möchte. Drei Wünsche sollte ich nennen, die mir mein Pflegeteam vielleicht erfüllen könnte. Ich nannte folgende:

  1. Urlaub in Schweden auf einem Campingplatz, auf dem ich früher mit meiner Familie oft war und auf dem meine Familie heute noch Urlaub macht.
  2. Nach Rostock fahren zur Hanse Sail und auf einem Segelschiff mitfahren – auf einem großen!
  3. Meine Schwester in Brandenburg besuchen.

Das Pflegeteam war jetzt gefordert

Jetzt war das Pflegeteam gefragt: Und zwei meiner Wünsche konnten wirklich realisiert werden. Schweden ist leider aus organisatorischen Gründen noch nicht möglich. Aber ich besuchte tatsächlich meine Schwester. Und was war mit dem Segeln?

Mit Rostock setzte sich mein Team schon im Januar in Verbindung. Sie fragten an, welche Möglichkeiten es gäbe, meinen Traum vom Segeln wahr werden zu lassen. Was folgte, war ein reger Schriftverkehr und Telefonkontakte. Der Vorsitzende vom Hanse Sail Verein, machte das Anliegen zu seinem. Es war für alle ein tolles Gefühl, zu spüren, dass es Menschen gibt, die daran interessiert sind, zu helfen. Mitte April erreichte mich dann ein Brief mit folgendem Wortlaut in Auszügen: „Sehr geehrter Herr Beyer, …hat der Vorstand des Hanse Sail Vereins beraten und beschlossen, Ihnen und Ihrer Familie eine Freude zu bereiten und hat Sie für eine Ausfahrt auf dem polnischen Segelschulschiff DAR MLODZIEZY gebucht. Der Kapitän ist über Ihr Kommen informiert. Wir wünschen Ihnen eine erlebnisreiche und einprägsame Ausfahrt…“

Beim Lesen dieses Briefes kamen nicht nur mir die Tränen.

Beeindruckend so ein Drei-Master

Das Schiff lag aufgrund seiner Größe nicht in Rostock, sondern in Warnemünde. Ich bin gelernter Binnenschiffer und besaß früher selbst ein kleines Segelboot, mir konnte es also nicht groß genug sein. Meine Augen leuchteten, die Begeisterung und Vorfreude stand mir ins Gesicht geschrieben. Meine Frau und meine Kinder waren sprachlos, die Überraschung hat gesessen.

Die Aufgabe des Teams war es, mich pünktlich nach Warnemünde zur Anlegestelle zu bringen, damit ich als erster an Bord konnte. Der lang ersehnte Tag war da und es hieß um vier Uhr aufstehen und fertig machen für die Reise. Ich bat meine Frau, mir mein altes Segelhemd und meine Segelschuhe herauszusuchen. Die Wettervorhersage war nicht so rosig, mit Regen und Wind war zu rechnen. Mir war das Wetter aber recht egal, von mir aus hätte auch ein Sturm im Anmarsch sein können. Pünktlich um sechs Uhr nahmen alle im Auto Platz, die notwendigen medizinischen Geräte und Maschinen wurden sicher untergebracht und ab ging es nach Warnemünde. Im Hafen lagen mehrere Schiffe, eines schöner und größer als das andere. Unser Schiff strahlte weiß vor dem wolkenbedeckten Himmel, alles sah so schön und gewaltig aus.

Trotz kleiner Probleme der erste an Bord

Die Gangway war eine echte Herausforderung: Sie war zu schmal oder der Rollstuhl war zu breit. Kräftige Seeleute wollten mich samt Rollstuhl an Bord tragen, aber das Prinzip vier Mann – vier Ecken funktionierte nicht. Dank meines kräftigen Pflegers wurde diese Hürde mutig genommen. Martin nahm mich in die Arme und trug mich an Bord. Helfer nahmen den Rollstuhl und dann fügte man alles schnell wieder zusammen, Rollstuhl – Tobias – Beatmung. Super!

Wir waren wie vorgesehen die ersten an Bord und konnten nun alles in Ruhe beobachten. Ich sog alle Eindrücke auf wie ein Schwamm: Alles beobachten, alle Schiffe erkennen, alles sehen; nichts wollte ich verpassen. Alle meine Sinne waren geschärft. Ich hörte, wenn Motoren zugeschaltet wurden, ich spürte den Wind und ich sah wie er in die Segel fuhr. Wie Ameisen wuselten und kletterten einige Besatzungsmitglieder in den Masten herum. Jeder hatte seinen Platz und jeder wusste was zu tun ist. Es wirkte wie ein großes Durcheinander und war doch völlig geordnet.

Ein perfekter Tag!

Nicht nur ich sehe auf die See und bin in Gedanken. So viele Schiffe, die man sehen und beobachten kann. Es ist einfach unglaublich, und das großartigste: Meine Familie und ich sind mitten drin. Es ist so schön, meine Frau froh und die Kinder aufgeregt und glücklich zu sehen. Ich sehe wie der Wind ihre Haare zerzaust und ich freue mich, dass es nicht regnet. Erinnerungen werden wach, ich denke an die Zeit, als wir selber noch gesegelt sind. Ich bin nicht sentimental oder traurig, ich bin glücklich im Jetzt und Hier.

Unsere Fahrt ging von Warnemünde die Küste entlang Richtung Kühlungsborn. Beim Wendemanöver legte sich das Schiff sanft auf die Backbordbacke und gemütlich ging es zurück nach Warnemünde. Das Wetter hielt durch, und ich werde diese Ausfahrt nie vergessen. Davon kann ich noch lange zehren. Der Tag war perfekt und rundum schön!

Autor: Tobias Beyer