„Selbstbestimmt durch Berlin und die Welt“ von Dr. Ute Oddoy

15. Mai 2016
„Selbstbestimmt durch Berlin und die Welt“ von Dr. Ute Oddoy
Auf den meisten Veranstaltungen rund um die Außerklinische Intensivpflege und Beatmung trifft man auf Persönlichkeiten, die einen beeindrucken und bewegen. Auf dem letztjährigen KAI in Brandenburg war das Ute Oddoy und ihr Bruder Hendrik Schreiber. Die an ALS erkrankte Mutter zweier Söhne und Gynäkologin, steht trotz aller Widrigkeiten ihre Frau. Immer an ihrer Seite – ihr Bruder Hendrik Schreiber, Luxemburger Anwalt (Avocat à la Cour). Über ihr Leben erzählen die Geschwister uns im folgenden Interview.

 

Bereits im Jahr 2006 wurde bei Ihnen die Diagnose ALS gestellt. Wie geht es Ihnen heute?

Gut. Manchmal Schlechter. Heute sehr gut. Meine Stimmung hängt nicht mehr von der ALS ab. Sondern von Dingen, die auch Gesunde freuen, ärgern oder aufregen. Das war nicht immer so. Die Diagnose wurde schnell gestellt und war trotz meiner Vorahnung doch ein Schock. Ich durchlebte immerhin zwei Jahre, bis ich „meine ALS“ angenommen habe. Die größte Hilfe sind Ziele, erst zeitnahe. Jetzt denke ich an das Erwachsenwerden meines kleinen Sohnes und an Familienzuwachs bei meinem Großen. Und mittelfristig organisiere ich Urlaubsreisen. Besonders schwer fiel mir die Aufgabe des Berufs. Und es braucht auch Hilfe von außen, sogar medikamentös.

Sie sind viel Unterwegs; vor allem in ihrem Heimatkiez in Berlin leben Sie Ihre Autonomie. Welche Erfahrungen machen Sie hier, wenn Sie unterwegs beim Einkaufen sind? Wie reagieren die Menschen auf Sie?

An drei Wochentagen fahre ich zur Therapie, weil in den Praxen die Behandlung intensiver ist. Erst 20 Minuten zum Bus, dann eine halbe Stunde im Bus mit Rampe und noch einmal 10 Minuten zur Praxis. Unterwegs bin ich auf Hilfe von Busfahrern und Passanten angewiesen, die mir Türen öffnen, den Fahrstuhl holen. Ich musste um den elektrischen Rollstuhl mit der Kinnsteuerung intensiv kämpfen. Erst eine Richterin verhalf mir zur Autonomie. Jetzt genieße ich meine Freiheit. Freiheit der Lagerung, Freiheit des Ortes, Freiheit der Bewegung. Leider kann ich nicht mehr verständlich artikulieren. Für die Busfahrer hab ich laminierte Schilder mit Zielstationen an meinem Rollstuhl gehängt. Für die Bankmitarbeiter ist in der Umhängetasche alles parat. Beim Einkaufen spreche ich Käufer an: „Bitte helfen“. Mit Blicken ziele ich auf die Milch oder das Brot. Am besten verstehen mich ältere Frauen, mühsam ist das Ansprechen von jungen Männern. Eine Frage der Gene und Empathie. Und bei mir eine Frage von Geduld. Persönlich nehme ich eine ablehnende Haltung schon lange nicht mehr. Bald nehme ich meinen Sprachcomputer von zu Hause mit.

Auch die Ernährung ist bei der Amyotrophen Lateralsklerose immer ein Thema; natürlich auch im Zusammenhang mit Selbstbestimmung. Wie leben Sie diesen Bereich?

Ich liebe gutes Essen. In meiner Familie wird viel gefeiert und raffiniert gekocht. Früher hatten wir fast immer Gäste, die den Lammbraten oder die Leberknödelsuppe meines Vaters oder die perfekte Gans meiner Mutter schätzten. Ich will eine PEG, wenn es mein Leben rettet. Aber auch dann setze ich mich an den gedeckten Tisch. Essen ist Kultur.

Seit einiger Zeit, sind Sie nachts über eine Maske beatmet. Pflegekräfte sind daher über Nacht an Ihrer Seite. Welche Ausbildung haben diese Mitarbeiter und wie haben Sie sie ausgewählt?

Seit 2010 benutze ich eine Maske. Jetzt jede Nacht. Ich habe mit meinem Pflegedienst „CARINA“ schon 2010 verabredet, wer den Zusatzkurs „Außerklinische Beatmung“ absolviert. Ich kenne alle Pfleger gut, vertraue ihnen vollständig. Am Anfang saßen meine „Bewacher“ direkt neben dem Bett. Heute habe ich das Arbeitszimmer neben dem Schlafzimmer umgeräumt. Ein Alarmsystem und mein ruhiger Schlaf erlauben diese Distanz. Ich fühle mich nicht permanent beobachtet und die Pflegerin kann sich deutlich freier bewegen.

Dr. Ute Oddoy auf der Messe "Miteinander Leben" am Stand des ALS-mobil e.V., 2014 in Berlin
Beim Selbsthilfeverein ALS-mobil e.V. werden ALS-Erkrankte auf Augenhöhe beraten
Es gibt immer noch viele ALS-Patienten, die sich gegen eine invasive Beatmung entscheiden. Wie gehen Sie mit diesem Thema um und welche Umstände würden Sie Ihrer Entscheidung hier zugrunde legen?

Jeder darf für sich entscheiden. Ich will eine invasive Beatmung, will auch jenseits der natürlichen Lebenserwartung bei ALS leben. Für mich gibt es kein Leben nach dem Tod. Deshalb lebe ich jetzt. Mein Motiv für ein langes Leben sind die Söhne, die ich aufwachsen sehen möchte. Und die Neugier auf das Leben.
Eine gute Entscheidung für oder gegen eine invasive Beatmung kann nur jemand treffen der optimal versorgt ist. Nicht Versorgungsmangel oder falsche Rücksicht auf pflegende Familienangehörige sollten zur Beendigung des Lebens führen. Denn das bedeutet die Ablehnung von Beatmung und künstlicher Ernährung. ALS-Erkrankte beraten im Verein „ALS-mobil e.V.“ auf Augenhöhe. Wir leben vor, wie man mit Tracheotomie und PEG wohnt, mit dem Sprachcomputer kommuniziert, ins Theater geht, verreist, sein Umfeld organisiert. Die Erfahrung zeigt, dass nach solchen Beratung künstliche Beatmung zum Beispiel deutlich öfter akzeptiert wird.

Sie sind Fachärztin für Gynäkologie. In Ihren ehemaligen Praxisräumen möchten Sie nun in den nächsten Monaten barrierefreien Wohnraum schaffen für bis zu zwei Menschen, die aufgrund einer Erkrankung hierauf angewiesen sind. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen? Werden Sie bei der Umsetzung Ihre Idee unterstützt?

Als meine Praxisnachfolgerin den Mietvertrag kündigte, um in einem Ärztehaus zu gehen, war ich traurig. Mein Lebenswerk beendet? Vor ALS war die Gynäkologie mein Lebensinhalt. Zwar lese ich immer noch Fachartikel zum Thema gynäkologische Onkologie, mein Lieblingsthema. Aber im Mittelpunkt stehen Familie und ALS. Ich habe mein Leben mit Als gut organisiert. Warum nicht die Erfahrungen für andere nutzen? Warum nicht von anderen lernen? Eine perfekte Symbiose. Die Idee „Wohnraum für Intensivpflege“ war geboren. Mit Helfern wie meinem Atemtherapeuten Ansgar Schütz von „Atemhilfe“ und einem Pflegeprofi Herrn Sabiniarz von „sab gGmbH“ ist die Umgestaltung der Praxisräume binnen zwei Monaten gelungen. Meine Brüder, mein Mann haben die Vermietung und den Umbau intensiv begleitet. Ich freue mich auf meinen ersten Mieter am 09. Februar.

Herr Schreiber, Sie haben sich als Luxemburger Anwalt (Avovat à la Cour) in Berlin niedergelassen und führen eine Kanzlei für Medizinrecht. Welche Probleme empfinden Sie als besonders drängend, wenn es um die Selbstständigkeit von betroffenen Menschen wie Ihrer Schwester geht?

Die meisten Betroffenen kennen ihre Rechte nicht oder nicht ausreichend, um ihrem verfassungsmäßig garantiertem Selbstbestimmungsrecht den erforderlichen Nachdruck zu verleihen. Patienten und ihr Angehörigen müssen sich noch viel mehr als Subjekt der eigenen Handlungen und als Organisator ihrer eigenen Lebensbedingungen verstehen. Die meisten Angebote zur Hilfe und Selbsthilfe sind noch zu wenig bekannt und müssen von den Betroffenen gesucht und konsequent eingefordert werden. Es besteht immer noch eine zu große Hürde, garantierte Rechte und Hilfen anzunehmen und diese auch durchzusetzen. Meine Erfahrung mit den verschiedensten Institutionen wie Krankenkassen, Pflegekassen und anderen zeigt, dass der Dialog möglich ist und in den meisten Fällen ein Kompromiss zu finden ist, wenn sachlich und fundiert argumentiert wird. Die außergerichtliche Regelung sollte daher unbedingten Vorrang haben. Sind dann aber etliche Auseinandersetzungen unausweichlich, sollten diese konsequent und straff unter Zuhilfenahme fachkundiger Personen geführt werden.

Dr. Ute Oddoy auf einer Vernissage von Jürgen Thiele (Brainpainter)
Kunst und Kultur spielen im Leben der Geschwister eine große Rolle, die hier eine Vernissage von Jürgen Thiele besuchen

 

Sie unterstützen Ihre Schwester im Alltag. In welcher Form hat das die Erkrankung Ihre Beziehung zueinander verändert?

Glücklicherweise überhaupt nicht. Es ist sehr schade, wenn schwere Erkrankungen zu einer Veränderung von Beziehungen untereinander führen, es sei denn es geht ins Positive. Da wir drei Geschwister alle Ärzte sind, brauchten wir uns über die grundsätzlichen Dinge der Erkrankung meiner Schwester nicht mehr austauschen. Wir sehen nur das „Plus“, welches wir suchen und finden, um eine positive Lebensgestaltung unserer Schwester zu garantieren. Der schon vor der schweren Erkrankung meiner Schwester bestehende enge Familienzusammenhalt konnte nahtlos fortgeführt werden. Dabei überwiegt die positive Grundhaltung, Dinge anzupacken und zu lösen. Dass sich meine zweite Ausbildung zum Juristen neben meiner Ausbildung zum Arzt nun erleichternd für meine Schwester auswirkt, ist ein schöner Nebeneffekt, den wir nicht überbewerten.

Ein gemeinsames Hobby ist das Reisen. Welche Erfahrungen machen Sie?

Durch die Unternehmungen und kurzen Reisen, die wir durchführen, bin ich „fitter“ geworden. Auf Reisen spüre ich am eigenen Leib, welche anstrengende Arbeit Pflegekräfte leisten und kann davor nur mein Hut ziehen. Alleine schon mit dem Rollstuhltempo mitzuhalten, erfordert einen guten „Schritt“. Die Unterstützung durch fremde Menschen während einer Reise ist enorm und sollte auch ohne Zögern angenommen werden. Ansonsten versuchen wir, die Behinderung einfach auszublenden. Alles, Fast alles –ist machbar. Nur Mut!

Quelle: Interview in beatmetleben 02/2015

 

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