Ich will leben!

24. Oktober 2017
Ich will leben!

Unsere liebe Ute hat in einer bewegenden Offenheit den Weg zu Ihrer Entscheidung für eine invasive Beatmung der Fachzeitschrift „beatmet Leben“ (Ausgabe 5/2017) geschildert. Wir danken dir liebe Ute für deine Worte und wir danken der Fachzeitschrift „beatmet Leben“ für die Nutzungserlaubnis des Artikels.

Ich will leben!

Die Gynäkologin Dr. Ute Oddoy aus Berlin ist ALS-Patientin.

Für uns beschreibt sie aus ihrer Sicht den Krankheitsverlauf und die

Hürden, die sie im Alltag mit voranschreitendem Krankheitsbild nehmen muss.

Mit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) erstickt man nicht qualvoll wie in Spielfilmen dramatisch gezeigt wird. Die Luftarmut kommt (fast) immer und schleichend. Deshalb ist die respiratorische Insuffizienz die häufigste

Todesursache bei ALS (Kaub-Wittemer, 2006). Und Thema jeder Konsultation in ALS Ambulanzen.

Ich und mein Weg zur invasiven Beatmung

Mein Name ist Ute Oddoy. 2006 erkrankte ich an Amyotropher Lateralsklerose.

Ich bin 58 Jahre alt, verheiratet, lebe in Berlin und habe zwei Söhne. Leider leben meine Eltern nicht mehr. Aber meine zwei Brüder kümmern sich sehr um mich. Als Gynäkologin blieb mir eine lange Diagnostik erspart. Die kompetente Neurologin stellte die Diagnose sofort. Im ersten Jahr verschlechterte sich mein Zustand so schnell, dass ich 2007 schon im Rollstuhl saß. Ich fiel zuerst in ein tiefes Loch. Aber mehrere Familienkonferenzen in großer Runde und Antidepressiva halfen mir.

Seit 2012 brauche ich einen Sprachcomputer. Jetzt habe ich den höchsten Pflegegrad erreicht. Trotzdem bin ich durch meine Kinn- und Umfeld-Steuerung sehr autonom.

2010 begann ich stundenweise eine Maskenbeatmung, eher prophylaktisch denn aus medizinischer Notwendigkeit. Jetzt brauche ich die Entlastung der Atemmuskulatur jede Nacht und am Nachmittag auch stundenweise.

Ich wollte immer die Maximaltherapie, also auch eine invasive Beatmung. Ich will leben. Bis zum März in diesem Jahr steckte ich den Kopf in den Sand. Keine Vorbereitung auf die Veränderungen, die eine Intensivbeatmung so mit sich bringen. Und dann im März 2017 die akute Aufnahme in die Charité! Ich habe

beim Essen Reis aspiriert und die Atemnot nicht ernst genommen. Es drohte die Tracheotomie. Und nur der beherzte Oberarzt und mein Mut zur Wachbronchoskopie retteten mich davor. Mit einer PEG konnte ich nach drei Wochen die Klinik wieder verlassen. Nun musste ich mich endlich der Realität stellen.

Was spricht für eine Tracheotomie?

Ohne Beatmung verkürzt ALS das Leben deutlich (Kaub-Wittemer, 2006). Und auch die Lebensqualität

sinkt rapide mit der Hyperkapnie (CO2 Anreicherung im Blut) beziehungsweise deren Folgen wie Kopfschmerzen, Tagesmüdigkeit und Konzentrationsschwäche (Kaub-Wittemer, 2006). Trotzdem entscheidet sich nur eine Minderheit der ALS-Betroffenen für die Beatmung, nicht-invasiv oder invasiv. Nur 15 Prozent lassen sich überhaupt beatmen, zehn Prozent invasiv (Kollewe et al., 2008). In Berlin sind es immerhin 28 Prozent, unter ihnen zehn Prozent invasiv (Meyer et al., 2017). In anderen Kulturen, ethnischen Gruppen und Ländern, auch in Europa, gibt es keine Tradition in häuslicher Beatmung (Kollewe et al., 2008).

Oft geraten ALS-Kranke akut in die Situation der invasiven Beatmung (Kollewe et al., 2008).

Fragen über Fragen – wie geht es weiter?

Kann man es besser machen? Die invasive Beatmung planen, wenn man sich DAFÜR entschieden hat? Was spricht gegen eine elektive Anlage der Tracheotomie? Und kann man mit invasiver Beatmung gut leben?

Vorreiter beweisen es. In Berlin ist es einfach: behindertengerechte Busse und Bahnen, rollstuhlgerechte

Infrastruktur, hochspezialisierte medizinische Betreuung, Pflegedienste sind in Ballungszentren gut mit Personal bestückt, alle Provider haben eine Filiale hier. Über einen Wohnortwechsel muss ich also nicht nachdenken. Allerdings musste ich den Pflegedienst wechseln. Nicht so einfach nach neun Jahren, aber ich

brauche Pfleger mit Erfahrung in invasiver Beatmung. Deshalb habe ich drei Pfleger von der „alten Truppe“ mit ins neue Team genommen. Der neue Pflegedienst schult die „neuen Alten“. Wie aber komme ich mit der Kanüle zurecht? Kann ich meine Kinnsteuerung noch bedienen? Wie bewältige ich die ständige Präsenz von Pflegern und die Abhängigkeit von Technik?

Meine Entscheidung ist getroffen

Ich muss mich an die ständigen Protokolle und Pläne gewöhnen. Aber ich gewinne viel. Ich möchte das Leben meiner Söhne begleiten, für die Familie da sein. Meinen Hobbys nachgehen. Ich bin nicht gläubig und lebe im Jetzt. Meine Neugier auf alles ist sehr groß. Das Leben ist herrlich bunt. Meine Entscheidung steht fest.

Ich werde mich invasiv beatmen lassen.

Allerdings noch nicht jetzt.