invasive Beatmung – Top oder Flop

22. Februar 2021
invasive Beatmung – Top oder Flop

Niemand wählt leichtfertig eine invasive Beatmung – mit allem was dazugehört.

Entscheidend ist – so sagt es Engelbert Diegmann, selbst an Amyotropher Lateralsklerose erkrankt – der richtige Zeitpunkt.

Im folgenden Beitrag – der in der „beatmet leben“ erschienen ist – erklärt er warum.


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DANKE liebe „beatmet leben“ für die Nutzungserlaubnis … und gleich hier – eine unbedingte Empfehlung zum abbonieren von uns.


Wenn Du nach zähen inneren  Verhandlungen entschieden hast, eine lebensverlängernde maschinelle Beatmung dem unzeitigen Ablauf Deiner Lebenszeit vorzuziehen, dann: Glückwunsch! Das ist keine Entscheidung, die man einfach so nebenbei trifft.

Wir alle, die in die gleiche Situation geraten sind – und heute durch ein ausgeklügeltes Schlauchsystem ganz bequem angewärmte und angefeuchtete Luft in unsere Lungen geblasen bekommen –, haben diese Entscheidung irgendwann getroffen. Wer für sich zu anderen Ergebnissen gelangt ist, lebt nicht mehr. Wenige Entscheidungen im Verlaufe Deiner Erkrankung sind so endgültig wie Deine Antwort auf die Frage der invasiven Beatmung.

Vorweg zur Mutter aller Fragen: „Tut das weh?“

Die Frage kann ich Dir nicht pauschal beantworten. Es gibt Leute, die denken an Schmerz und brauchen gleich eine Ibuprofen 800. Oder zwei. Oder Drei. Andere haben eine hohe Schmerztoleranz. Vor allem Frauen – Du kannst kein Weichei sein, wenn Du Kinder zur Welt bringst.

Ich würde sagen, dass es im Jahr 2021 für jeden Schmerz ein passendes Medikament gibt. Auch tapfere Indianerherzen müssen heute keinen Schmerz aushalten. Weil unsere individuellenEindrücke so grundverschieden sind, geht es darum, dass Du den richtigen Zeitpunkt zur Tracheotomie (so nennt man die Anlage eines Luftröhrenschnitts in der Fachsprache) auf keinen Fall verpasst: Gutes Timing ist essenziell!


Target 1:

Eine stabile Tracheostoma-Anlage braucht Zeit!

Völlig reizfrei und abgeheilt war mein Luftröhrenschnitt nach etwas mehr als einem Jahr. Über ein Jahr!!!

Ich habe einige Kollegen beobachtet, die viel länger gewartet haben. Und auch bei denen war es kein glatter Weg, sondern es ruckelte gewaltig. Die haben die Operation immer wieder verzögert und dabei ihre Spontanatmungsfähigkeiten komplett ausgereizt.

Jede Pflege ihrer Trachealkanüle sieht heute aus wie ein Reifenwechsel bei der Scuderia Ferrari – weil
der Patient blau wird, wenn man seine Beatmung ausschaltet. Beschneide Dir selber nicht die Zeit, die Du zum Heilen brauchst.

Wenn es bei Dir am Bett aussieht wie bei Mick Schumacher in der Boxengasse, dann hast Du den richtigen Zeitpunkt definitiv verpasst.

Target 2:
Warte nicht, bis Du Deine Hände verloren hast!

Andere Mitpatienten haben gewartet, bis ihre Arme und Hände gelähmt waren.
Für mich wäre das der Super-GAU:
mich der Fähigkeit beraubt zu sehen, mit meinen eigenen Händen zu erfahren, wie sich der korrekte Sitz der Trachealkanüle (TK) anfühlt; die TK einfach mal selber ziehen und selber einsetzen zu können. Sogar das Absaugen des Trachealsekrets habe ich auf der Beatmungsstation beigebracht bekommen.

Ich weiß nun, wie das funktioniert. Und: Ich sehe sofort, wenn meine Pflegekräfte es nicht gut gelernt haben oder – noch schlimmer – es überhaupt nicht können. Auch bei zunehmender Lähmung Deiner Hände ist der richtige Zeitpunkt entscheidend.

Target 3:
Deine Atemmuskelpumpe sollte noch (ausreichend) pumpen!

Du erinnerst Dich an die Bilderchen, die Du in der Telefonzelle beim Lungenfunktionstest
mit Deinem Atem zeichnest?
Je schwächer unsere Atemmuskelpumpe arbeitet und je gravierender Deine Atemmuskulatur überlastet ist, desto schneller schließt sich das Fenster des richtigen Zeitpunkts für Deine Tracheotomie.

Ein Luftröhrenschnitt ist bei Notfällen eine Sache, die man ratzfatz in der Rettungsstelle erledigt. Skalpell. Haut straffen. Schnitt. Luftröhre offen. Wenn Du diesen Weg wählst – und so lange wartest, bis Du als Notfall in die Rettungsstelle gebracht wirst –, dann sind Deine Ressourcen und Deine Resilienz begrenzt.

Ressourcen und Resilienz – von diesen beiden ist die Resilienz besonders wichtig.
Wikipedia beschreibt das so: „Resilienz (von lateinisch resilire ‚zurückspringen‘ ‚abprallen‘) ist der Prozess, in dem Personen auf Herausforderungen und Veränderungen mit Anpassung ihres
Verhaltens reagieren […]. Resilienz kann einen wichtigen Beitrag zur Fähigkeit eines Einzelnen leisten, sich zu erholen oder auf Herausforderungen und Veränderung zu reagieren.“


Mein Fazit:
Der richtige Zeitpunkt ist…

Der richtige Zeitpunkt ist der, an dem wir unsere Meinung auf Grundlage wissenschaftlicher Fakten gebildet haben, und nicht aufgrund anderer Patienten, die erzählen, dass man auch ohne Beatmung
schick sterben kann. Wir sollten genügend Zeit mitbringen, um mit Entzündungen, Verwachsungen, chirurgischen Rekonstruktionen und mit einer guten Schmerztherapie leben zu lernen. Unsere Hände sollten noch soweit beweglich sein, dass wir unser Tracheostoma selber begreifen können.

Und Du solltest kein Notfall sein, der in der Rettungsstelle den anderen die Show stiehlt: Der richtige Zeitpunkt ist lange vor der Notfallmedizin erreicht.

Fragen? Ich – und andere invasiv beatmete Patienten – beantworten gerne Deine Fragen. Bleibe bitte
gesund und erwische den richtigen – Deinen – richtigen Zeitpunkt, denn: Gutes Timing ist essenziell!


Kontakt:
Engelbert Diegmann
invasive-beatmung@als-mobil.de