Wie man mich bettet…

10. November 2017
Wie man mich bettet…

Wie man mich bettet…

2010 erhielt Tobias Beyer die Diagnose AL S.

Die Ärzte klärten ihn auf; sagten ihm, was alles auf ihn zukommen könnte. „Könnte!”

Aber muss es denn bei mir so sein?“,fragte er sich. Diese Krankheit verläuft bei jedem anders. Die Aussichten allerdings waren alles andere als hoffnungsvoll.  Heute ist er auf jede Menge Hilfsmittel angewiesen. Und ist froh in einem Land zu leben,in dem viele von ihnen Kassenleistungen sind.

Hier spricht er über sein Leben mit Hilfe.

Die Amyothrophe Lateralsklerose ist eine progrediente, also voranschreitende Erkrankung. Sie ist leider noch nicht heilbar und ihr Verlauf ist bei jedem Betroffenen sehr unterschiedlich. Leider habe ich von noch keinem gehört, dass etwas besser geworden ist. Ich kann aber aus Erfahrung sagen, dass die Versorgung mit Hilfsmitteln, die das Leben mit dieser Erkrankung verbessern können, immer besser wird.

Beim Essen fing es an und dann kam die Beatmung

Während des Essens verschluckte ich mich oft und zunehmend hatte ich Schwierigkeiten beim Schlucken allgemein. Angst und Panik lernte ich kennen. Wie geht es einem, wenn man was in den falschen Hals kriegt? Solange es nur Worte sind, kann man darauf reagieren. Die Angst zu ersticken, wenn Nahrungsmittel die Luftröhre passieren und dann die furchtbaren Hustenanfälle, die so kräftezehrend sind: Es sind Erfahrungen, die man nicht beschreiben kann. Ich entschied mich also für eine Magensonde. Mein erster Schlauch an dem mein Leben nun hängen sollte. Zu essen bekomme ich all das, was meine Familie auch isst, nur in passierter Form eben. Ich muss nicht mehr schlucken, Nahrung und Getränke nehmen nun den kürzesten Weg direkt in den Magen. Ob Fischsemmel, Boulette, Bratkartoffeln, Eisbein, Kuchen oder Stulle, Obst und Gemüse, mit einem Mixer und Wasser bekommt man alles in Form. Ich bekomme Kaffee, Tee, Wasser – aber auch einem Bier gegenüber bin ich nicht abgeneigt. Ich schmecke es leider nicht mehr, aber die Wirkung ist dieselbe. Meine zweite Entscheidung war maschinell beatmet zu werden. Schließlich war ich noch nicht bereit zu gehen, ich will doch meine Mädels heranwachsen sehen. Ich will bei meiner Frau, bei meiner Familie sein. Meinen Egoismus möge man mir bitte verzeihen. Das Leben selbst trifft Entscheidungen, ganz ungeplant und unvorhersehbar. „Was soll sein?“, sagte ich mir. Die Ärzte gaben ausführlich Auskunft und berieten mich. Wenn man die Beatmung nicht mehr möchte, kann man diesen Schritt rückgängig machen. Vereinfacht gesagt, kann ich für mich selber entscheiden, ob mir das Leben noch lebenswert ist. Medizinisch betreut werde ich unter anderem von der ALS-Ambulanz der Charite. Halbjährlich werde ich da vorstellig und es wird nicht nur der Verlauf der Erkrankung dokumentiert. In der ALS-Ambulanz werde ich umfassend beraten – auch zu möglichen Hilfsmitteln bekomme ich Hinweise und Verordnungen. 

Die Liste aller Hilfsmittel, die ich seit meiner Erkrankung erhalten habe, ist lang. Ich nenne hier mal einige in einer losen Aufzählung:

Pflegebett, Faltrollstuhl, Pflegerollstuhl, Elektrorollstuhl, Fußsack für den Rollstuhl, Treppensteiger, Treppenraupe, Aufstehhilfe, Lifter, Absauggerät intern und extern, Beatmungsmaschine für drinnen und eine für draußen – dazu eine Gerätehülle mit Fallschutz, Hustenassistent, Antidekubitussitzkissen, Lagerungskissen, spezielle Kopfstützen für den Rollstuhl mit Stirnbandfixierung, Toilettenstuhl, später dann einen neigbaren Duschstuhl. Das waren jetzt nur Geräte; dazu kommen noch tausend kleine Dinge für den täglichen Gebrauch wie Absaugkatheter, Schlauchsysteme, Filter, Tubusverlängerungen, Handschuhe, Inkontinenzmaterialien, Desinfektionsmittel und so weiter und so fort. Es ist schon ein richtiges Ersatzteillager, das mich umgibt. Hilfsmittel werden ärztlich verordnet, werden von der Krankenkasse genehmigt oder abgelehnt, bei Ablehnung geht man in den Widerspruch und begründet die Notwendigkeit. Meistens ist dann mit einer Bewilligung zu rechnen. Das Prozedere machten wir durch, als für mich eine Umfeldsteuerung beantragt wurde. Natürlich kann die Pflegekraft für mich das Fernsehprogramm wählen, aber ich finde es schon viel schöner, die wenigen Dinge, die ich tun kann, ohne fremde Hilfe zu tun. Selbstständigkeit und Selbstbestimmung sind so wichtig fürs Selbstwertgefühl. Ich kann mich über meine Krankenversicherung im Prinzip wirklich nicht beklagen. Ich werde rund um die Uhr von Pflegekräften – sie sind doch meine schönsten Hilfsmittel – betreut. Die häusliche Pflege wird halbjährlich bei der Krankenkasse beantragt. Ich bin froh in einem Land zu leben, wo so etwas eine Kassenleistung ist und es mir dadurch möglich ist, bei meiner Familie und in unserem Haus wohnen und leben zu dürfen.

Manchmal ist die Krankheit schneller als die Kasse

Anfang dieses Jahres erhielt ich ein Schreiben meiner Krankenkasse, in dem angefragt wurde, ob Erfolge durch die Pflege erzielt wurden und ob eine Reduzierung der Stunden möglich sei. Schreck lass nach. Ich würde auch gern wieder arbeiten gehen, aber eine Besserung ist leider nicht in Sicht. Dieses Schreiben löste nicht nur bei mir Unbehagen aus, zeugt es doch von wenig Sachverstand und Empathie. Ich möchte aber auch sagen, dass viele Hilfsmittel genehmigt wurden, obwohl klar war, dass ich sie nicht sehr lange nutzen kann und nie Heilungserfolge im Vordergrund standen. Ziel war immer, meine Lebensqualität zu verbessern. Der Einbau einer Duschzelle wurde bewilligt. Und doch – mitunter gewinnt die Krankheit den Wettlauf mit der Zeit. Heute nutze ich einen neigbaren Duschstuhl und dafür ist die Nasszelle inzwischen zu klein. Ähnlich auch: Der Treppensteiger wurde mit Sitzschale umgebaut und konnte dann kurze Zeit später nicht mehr von mir genutzt werden, weil meine Sitzhaltung zu instabil wurde. So zeigt sich: von der Antragstellung für ein bestimmtes Hilfsmittel bis zur Umsetzung vergeht immer eine gewisse Zeit und manchmal ist die Krankheit leider schneller. Deshalb sind gerade bei einer Erkrankung wie ALS Widerspruchsverfahren so ermüdend und beänstigend. Einiges wird von den Krankenkassen auch nur bezuschusst, wie zum Beispiel in meinem Fall der Bau einer Rollstuhlrampe; die Differenz spendete dann ein privates Unternehmen. 

Überhaupt bin ich immer wieder von Spenden abhängig. So wurde der Sprachcomputer – ohne den ich kein Wort über die Lippen bringe – von der Krankenkasse gestellt. Aber, wie das mit der Computertechnik so ist: Alles entwickelt sich ständig weiter und das ziemlich schnell. Mithilfe einer spontanen Spendenaktion meiner Gemeinde war es möglich, einen internetfähigen Computer anzuschaffen. Mein Kopf, also besser gesagt mein Grips, funktioniert zum Glück noch sehr gut. Ich kann meinen Computer mithilfe einer Infrarot Augensteuerung bedienen. Wo ihr mit den Fingern über die Tastatur fliegt, fliege ich mit meinen Augen über den Bildschirm, denn dieser ist meine Tastatur. Ich bringe den Computer dazu, auszusprechen, was ich nicht sagen kann. Die Lautstärke kann ich verändern und auch die Geschwindigkeit. Wenn ich will, kann ich auch mit weiblicher Stimme sprechen; womit mir bei Familienfeiern so manche lustige Einlage gelingt. Ach, und ich habe auch kein Problem mir Witze zu merken; einmal eingegeben und gespeichert, kann ich sie jederzeit rauslassen. Das könnt ihr nicht.

Mit den Augen sprechen enthält eine ganz neue Bedeutung

Im ALS-Verein treffen wir uns regelmäßig zum Stammtisch. Wir diskutieren und quatschen einfach so miteinander. In so einer Runde ist es dann schon komisch, wenn mehrere Männer mit derselben Stimme zu hören sind. Man muss schon schauen, woher die Stimme kommt, um sie der richtigen Person zuordnen zu können. Die Augen sind mein wichtigstes Sinnesorgan, um mich ausdrücken zu können. Nicht immer kann ich den Computer zum Sprechen nutzen, aber auch meine Augen können sprechen, glaubt man den Pflegekräften, die täglich mit mir zu tun haben. Meine Mimik kann ganz klar Ja- und Nein-Fragen beantworten. Augenbrauen hochziehen heißt „ja“ oder ist eine freundlich zustimmende Geste und Augen zusammenkneifen beziehungsweise schließen, heißt „nein“. „Ich will“ – das klingt so fordernd und irgendwie egoistisch. Ich gebe gern zu, ich bin schon manchmal egoistisch und fordernd. Ich lebe gern und meine Zeit ist begrenzt. Eure übrigens auch. Mir wird mit Fortschreiten der Krankheit immer wieder bewusst, wie sehr ich vom Wohlwollen anderer und von Hilfsmitteln abhängig bin. Ohne Hilfe, Unterstützung und Übernahme anderer wäre ich aufgeschmissen. Als gesunder Mann habe ich immer gesagt: „Wenn ich mal schlimm krank werde, dann möchte ich keine lebensverlängernde Maßnahmen. Ich möchte nicht an Schläuche und Maschinen angeschlossen sein und von anderen den Hintern abgewischt bekommen.“ 

Jetzt lesen Sie meine Worte und wissen: Ich habe meine Einstellung geändert. Ich lebe gern und habe an so vielen Dingen Freude. Ich erlebe, dass viele Menschen bemüht sind, mein Leben lebenswert zu gestalten.

Die Versorgung mit Hilfsmitteln ist gesetzlich geregelt. Was aber sind Hilfsmittel eigentlich? Da gibt es die, die auf Rezept verordnet werden. Doch es gibt tagtäglich Ereignisse, in denen ich spüre, wie vielfältig Hilfsmittel sind. Ob Vereine, Organisationen oder Veranstalter, ob mein Nachbar oder der Busfahrer, der mir freundlich die Rampe anlegt, damit ich mit dem Rollstuhl reinfahren kann. Ob die Kinder, die mich anlachen und Fragen stellen oder die Menschen, die ohne Scheu auf mich zukommen oder Sie als Leser, der mir gerade seine Aufmerksamkeit schenkt. Ob der Sonderfahrdienst für Menschen mit Behinderung oder die Tüftler von Talk Tools, die immer wieder versuchen, Hilfsmittel meinen Bedürfnissen entsprechend anzupassen.

Ich bin um alle froh!

Beatmetleben6/2017 DANKE

tilu.beyer@web.de