Mit Rollstuhl und Beatmung auf hoher See Urlaub machen? Was für die meisten klingt wie ein frommer Wunsch, wurde für vier Rollstuhlfahrer zur Reiserealität. Von Warnemünde bis Stockholm – auf dem Kreuzfahrtschiff ging es auf hohe See, mit allem was dazugehört.
An dieser Stelle erst einmal vielen Dank an die “beatmet leben“, dass wir den wundervollen Beitrag nutzen dürfen. Hier ist er auch noch einmal als pdf Datei zu finden: beatmet leben
Schon Anfang 2015 reifte in uns der Plan, gemeinsam eine Kreuzfahrt zu unternehmen.
Wir, das sind vier Rollstuhlfahrer. Olaf Westphal, Oliver Jünke, Jan Grabowski und Anja Clement. Oliver, Jan und Anja sind an ALS erkrankt. Wir werden invasiv beziehungsweise über Maske beatmet. Wir entschieden uns für eine Fahrt von Warnemünde nach Tallinn, Sankt Petersburg, Helsinki und Stockholm.
So hatten wir den Vorteil einer kurzen Anreise zum Schiff. Auch der Transport unseres Equipments war dadurch unproblematisch. Beatmungsgeräte, PEG-Zubehör, Duschrollstuhl, Lifter und was sonst noch zu uns gehört, mussten mit. Für die Stromversorgung unserer doch zahlreichen medizinischen Geräte brauchten wir Kabeltrommeln und mehrere Verteilersteckdosen. Oliver, Olaf und Anja hatten manuelle Rollstühle. Jan hatte zusätzlich zu seinem schweren E-Rolli einen Faltrollstuhl geplant, um bei den Ausflügen flexibler zu sein.
Gute Planung ist alles
Im Herbst 2015 begannen wir die Ausflüge vorzubereiten. Es war ziemlich schwierig, konkrete Informationen über barrierefreie Ausflüge von der Aida zu bekommen. Nach relativ langen Wartezeiten waren diese dann sehr teuer. Wir buchten nur für Petersburg entsprechende Fahrzeuge mit Reiseleiter und Fahrer. Die Aida kümmerte sich für diese Buchung um die notwendigen Visa. Wir brauchten nur noch gültige Reisepässe. Helsinki und Stockholm wollten wir mit „hop-on hop-off“-Bussen erkunden. Wir mussten im Vorfeld genaue Angaben machen, welche medizinischen Geräte mitgeführt werden und welche Größe, Gewicht die Rollstühle haben. Den Parkplatz in Warnemünde konnten wir problemlos bei „Parken und Meer“ im Internet buchen.
Jetzt geht’s los
Beizeiten stehen wir auf, um auch bei Stau pünktlich am Schiff zu sein. Letztendlich sind wir mit Begleitern, Angehörigen und Freunden 17 Personen. Die Mitarbeiter von „Parken und Meer“ erwarten uns am Kai. Wir können direkt vor dem Check-in unser Gepäck ausladen und unsere Autos abgeben. Und da liegt sie nun vor uns, dieses riesige Schiff, die AIDA mar mit ihrem Kussmund und den leuchtenden Augen. Schnell können wir das Schiff in Besitz nehmen. Um in die recht kleinen Aufzüge hineinzukommen, müssen wir rangieren. In der vierten Etage liegen unsere Kabinen. Die Kabinen sind geräumig. Wir haben mit Fenster gebucht. In den 3–Personen-Kabinen befindet sich ein Doppelbett, das unterfahrbar ist, und ein schmales Einzelbett. Das Bad ist groß mit befahrbarer Dusche. Die Toilette befindet sich in der Ecke und nahe dem Waschbecken, ist aber gerade noch mit dem Stehlifter praktikabel. Problematisch jedoch für Anja, die ohne Stehlifter umgesetzt wird. Besser gelöst ist das Bad in Olafs Zimmer. Er hat eine Kabine ohne Fenster. Zwei Einzelbetten stehen hintereinander.
Um 16 Uhr müssen wir uns auf Deck 5 einfinden zur Seenot- Rettungsübung. Da sich die Rollstuhlkabinen auf Deck 4 befinden und die Rettungsboote auf Deck 5 wäre wohl unsere Überlebenschance im Notfall nicht so groß. Na ja, man kann nicht alles haben. Um 18 Uhr werden die Leinen gelöst. Nach dreimaligem lauten Hupen verlässt das Schiff bei Musik von Enya, Orinoco Flow, den Hafen. Wir genießen diesen Augenblick. Nun aber Essen. Zum Glück haben wir uns alle im gleichen Restaurant verabredet. Zwei große Esstische sind speziell für Rollstuhlfahrer reserviert. Wir genießen unser erstes Abendbrot mit Blick auf die in der Sonne glitzernde Ostsee. Das Büfett ist überwältigend. Für die, die über PEG ernährt werden, wird das Essen püriert.
Grenzenlos barrierefrei
Das Schiff ist einfach toll. Großzügige Verglasungen bis zum Boden. Mehrere Restaurants und Bars. Eine Shopping Mall, Sonnendecks, ein mehrgeschossiges Theatrium. Und alles ohne Schwellen barrierefrei erreichbar. Unser erster Tag ist ein Seetag. Die Besprechung für Rollstuhlfahrer früh um 8 Uhr 30 schaffen wir leider nicht. Wir verbringen den Tag mit sonnen, essen, Vorträgen und Gesprächen und fühlen uns sehr wohl auf dem großen Luxusdampfer. Anja bedauert, dass sie für die Zeit auf dem Schiff nicht ihren E-Rollstuhl mitgebracht hat. Wo kann man sich schon so barrierefrei bewegen?
Dann legen wir in Tallinn an. Gut, dass Jan seinen leichten Rollstuhl dabei hat. Eine andere Rollstuhlfahrerin lässt ihren schweren E-Rollstuhl von der Crew über die Gangway tragen. Das ist wohl doch ein bisschen viel verlangt. Wir treffen uns am Hafenausgang mit unserer Reiseleiterin. Der Weg zur historischen Altstadt ist nicht weit. Beeindruckend sind die liebevoll sanierten Häuser der Handelsleute und Handwerker. Das Kopfsteinpflaster ist für die Rollstühle sehr beschwerlich. Besonders schwierig wird es bergauf zur Oberstadt. Auf dem Domberg angekommen, haben wir eine herrliche Aussicht auf das historische Stadtzentrum und den Meerbusen der Ostsee. Die neuen Gebäude östlich der Altstadt verraten, dass in Estland die Zeit nicht stehengeblieben ist. Am Abend sind unsere Begleiter geschafft vom Schieben der Rollstühle. Doch Tallinn ist die Mühe wert. Das gilt auch für Sankt Petersburg. Der Hafen der Stadt befindet sich zehn Kilometer außerhalb der Stadt. Das von Oliver und Jan gebuchte Großraumauto mit elektrischer Rampe, dem Fahrer und der Reiseleiterin wartet schon auf dem Parkplatz. Auch mit dem Van, den Olaf gebucht hat, klappt es super. Nur bei Anja wird es problematisch. Obwohl wir beim verantwortlichen Offizier auf einen großen Kofferraum hingewiesen haben, steht da eine Luxuslimousine mit Fließheck. Der Rollstuhl musste im Großraumauto von Oliver und Jan verstaut werden. Es beginnt eine spannende Verfolgungsjagd von Luxuslimousine hinter Großraumauto mit Anjas Rollstuhl. Wir fahren zunächst nach Puschkin zum Katharinenpalast. Die Aida hat nur für die Passagiere unseres Schiffes ein Zeitfenster zur Besichtigung organisiert. Der Palast ist prächtig und akribisch saniert. Den Höhepunkt stellt eine Kopie des Bernsteinzimmers dar. Der gesamte Raum ist mit Bernsteinen besetzt. Jan muss im Museumseingang zurückbleiben, denn sein Akku von der Beatmungsmaschine brauchte erstmal Strom. Der Park ist wunderschön, sehr gepflegt, sehr weitläufig. Leider muss man suchen, um rollstuhlgeeignete Wege zu finden. Bei einer Rundfahrt durch das Stadtzentrum Petersburgs kommen wir an den vielen Sehenswürdigkeiten vorbei.
Rein in den Bus
Helsinki wollen wir auf eigene Faust erkunden. Die „hop-on hopoff“- Busse leisten uns dabei gute Dienste. 30 Euro pro Person und eine Haltestelle in unmittelbarer Nähe von unserem Liegeplatz. Aber auch die normalen Linienbusse sind rollstuhlgerecht. Mit Hilfe der freundlichen Finnen finden wir die bemerkenswerte Felsenkirche und das interessante Denkmal für den Komponisten Jean Sibelius. Sehenswert ist auch die Markthalle am Hafen. Neben Bärenfett und Lachs in allen Variationen gibt es viele andere regionale Produkte. Wir laufen beziehungsweise rollen am Meer entlang auf einer gut befestigten Promenade zurück zum Schiff. Am nächsten Tag erreichen wir Stockholm. Bei strömenden Regen besteigen wir die „hop-on hop-off“- Busse und fahren zum Vasamuseum. Die Vasa ist ein imposantes Kriegsschiff, das der schwedische König 1625 bauen ließ. Das Schiff sank nach 20 Minuten Jungfernfahrt auf unerklärliche Weise. Heute kann man es in dem extra dafür errichteten Museum besichtigen. Wieder im Bus versuchen wir einige Blicke durch die beschlagenen Scheiben zu erhaschen. In der Altstadt steigen wir aus und laufen durch die mittelalterlichen Gässchen des Stadtteils Stadholmen. Zimtschnecken sind eine typische Spezialität. Wir quetschen uns in ein kleines Café, um sie zu probieren.
Nach der Besichtigung dieser schönen Stadt sind wir froh, wieder die trockenen Annehmlichkeiten der AIDA zu erreichen. Wir genießen noch einmal das Schiff, hören uns einen Vortrag über die russische Zarenfamilie an und können den Kapitän im Theatrium befragen. Wir erfahren vieles über das Schiff, das unter italienischer Flagge fährt und 1.200 Mitarbeiter beschäftigt. Die 2.000 Gäste sind nicht nur eine logistische Herausforderung. So werden zum Beispiel zwei Tonnen Ananas gegessen. Auch wir waren maßgeblich daran beteiligt.
Ein Cocktail und Adieu
Ein letzter Cocktail in der Bar und schon müssen wir langsam Abschied nehmen. Als wir das Schiff verlassen, sehen wir von der Reling aus bereits unsere Autos. Wir haben eine kleine Träne im Knopfloch, denn es war sehr schön und wir haben uns gut verstanden. Sicher muss man einige Fakten kritisch betrachten. Der große Überfluss, die Lebensbedingungen der meist philippinischen Servicekräfte, der Kraftstoffverbrauch. Jedoch ist eine Kreuzfahrt für Rollifahrer auch mit vielen körperlichen Einschränkungen eine praktikable Art zu reisen; auch mit invasiver Beatmung gut machbar. Die Begleitpersonen haben weniger Belastung durch die Barrierefreiheit des Schiffes. Sicher ist die Planung der Landausflüge nicht ganz einfach. Doch wir haben wieder festgestellt, dass auch in anderen Ländern an die Bedürfnisse behinderter Menschen gedacht wird. Manchmal einfühlsamer und unkomplizierter als in Deutschland.
weiter Infos bei anja.clement@als-mobil.de